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Presse und Realität

Aus gegebenen Anlässen hier in Auszügen ein schönes Fundstück:

Presse und Realität
VON IGNAZ WROBEL

Man könnte glauben, die Ereignisse geschähen und glitten dann automatisch in die Zeitung hinüber, von der Wirklichkeit in die Presse, von der Realität in die Wiedergabe. Das ist nicht richtig. ….

Weit entfernt, etwa die Nachrichten von Ereignissen möglichst so wiederzugeben, wie sie geschehen sind, die Wiedergabe also möglichst der Wahrheit anzunähern, ist das Bestreben aller Fachleute darauf gerichtet, die Wiedergabe organisatorisch und pressetechnisch so zu gestalten, daß man sie für die Wahrheit ansieht. ….

Wesentlich an einer Zeitung ist zunächst und vor allem, was sie bringt, und was sie nicht bringt. Niemand wird annehmen, daß täglich stets grade so viel geschieht, wie in sechzehn Seiten hineingeht – aber fast jeder wird annehmen, daß da das Wesentlichste, gewissermaßen der Extrakt aller täglichen Geschehnisse, zu lesen sei. Ich glaube nicht, daß das der Fall ist. Der geschickte Journalist hat eine Waffe: das Totschweigen – und von dieser Waffe macht er oft genug Gebrauch. Jede Zeitung hat eine Reihe Personen, Dinge, Interessenssphären, die tabu sind – von ihnen wird niemals, weder im guten noch im bösen Sinne, gesprochen. ….

Es muß einer sehr stark sein, wenn man ihn nicht totschweigen kann. ….

Der Redakteur bekommt mit der Zeit den Größenwahn. Besonders der beschränkte, der nicht sieht, daß er nur Handwerkszeug Größerer, hinter ihm Stehender ist. Er hat im Laufe der Jahre gelernt, daß das, was er nicht drucken läßt, für Hunderttausende nicht existiert – daß das, was er den Leuten mit der Papageientaktik in die Köpfe lärmt, für sie im Mittelpunkt der Erde steht. Er wird also immer mehr auf die Wirkung als auf die Wirklichkeit sehen.
Der Leser vertraut der Presse blind, weil ihn seine Zeitung ja nicht über sein eigenes Wesen aufklärt und weil eine andre Einwirkung auf die Öffentlichkeit gegen die Presse nur sehr, sehr schwer ist. Die Wirkung auf den Leser wird in fast allen Fällen die gewünschte sein. Das Korrektiv mehrerer Zeitungen leisten sich außer den Fachleuten nur wenig Menschen – und so entsteht ein Weltbild, wie es entstehen soll, nicht, wie es ist. …….

Kurt Tucholsky als Ignaz Wrobel, am 13. 10. 1921 in der Weltbühne (Nr. 41, Seite 373)

KtW