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Sie sind nicht vergessen

Der Tagesordnung der Gemeinderatssitzung vom 18. März ist ein Gedenken an die Gleichschaltung vom März 1933 vorangestellt worden.
Für den Gemeinderat sprach dazu Klaus te Wildt, der auch den Text der Gedenktafel verfasste.

Hier der Text seiner Rede:

Sie sind nicht vergessen.

 Die Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten begann mit der Gleichschaltung.
Am 31. März 1933 wurden auch in Tübingen die frei gewählten Mitglieder
des Gemeinderats aus ihren Ämtern vertrieben.
Viele wurden Opfer von Unrecht und Verfolgung.
Sie wurden überwacht, bedroht, in KZ-Haft verbracht oder erlitten berufliche Nachteile und Diskriminierung im Alltag.

Zu ihnen zählten
Hugo Benzinger (KPD) – Dr. Simon Hayum (DDP)
Josef Held (Zentrum) – Otto Koch (SPD) – Josef Schleicher (Zentrum)
Paul Schwarz (Zentrum) – Arno Vödisch (SPD)

Die Universitätsstadt Tübingen bewahrt Ihnen ein ehrendes Andenken.

 Tübingen, im März 2013

 

Sehr geehrter Herr Oberbürgermeister,
liebe Kolleginnen und Kolleginnen,
sehr geehrte Damen und Herren,

Die Fraktionen des Tübinger Gemeinderats sind übereingekommen, mit einer Tafel der Kollegen zu gedenken, die, frei gewählt, im März vor 80 Jahren vom sich etablierenden Naziregime aus ihren Ämtern vertrieben wurden. Die Tafel soll den soeben zitierten Text tragen. Wir stellen uns vor, sie im historischen Rathaus anzubringen. Damit wollen wir zeigen, dass unsere Vorgänger, die sich in der ersten deutschen Demokratie für unsere Stadt eingesetzt haben, nicht vergessen sind; in einem sichtbaren Akt der Solidarität wollen wir sie in unsere Mitte zurückholen.

Die Idee zu einer derartigen Erinnerung wurde im Herbst 2008 geboren. Fast fünf Jahre hat es gedauert, bis man zu der jetzigen Übereinkunft kam. In den 60 Jahren zuvor nichts! Nazis und Nazi-Verstrickte wurden mit Ehrenbürgerwürden und Straßenbenennungen geehrt. Die Opfer der Gleichschaltung von März 1933 wurden vergessen. Die Linke hat es früh beklagt, meine Fraktion hat eine Gedenktafel vorgeschlagen. Die Fraktionen des Gemeinderats haben sich bald angeschlossen. Ganz zuletzt einigten wir uns auf den vorliegenden Text.

Unrecht geschah allen, die ihr Mandat verloren. Manche arrangierten sich mit dem Regime. Wir wollen mit der Tafel aber nicht so sehr an das Unrecht, sondern vor allem an die Menschen, erinnern, denen auch in der Folgezeit Gewalt angetan wurde. Darüber wird im April an diesem Ort die Geschichtswerkstatt berichten, der wir die fundierte Zusammenstellung vor allem auch der biographischen Daten verdanken.

Sie, sehr geehrter Herr Oberbürgermeister, haben das Gedenken an die vor 80 Jahren erfolgte Gleichschaltung auch des Tübinger Gemeinderats der Tagesordnung unserer heutigen Sitzung vorangestellt. Es ist wichtig, an das historische Geschehen zu erinnern. Kaum einer unter uns, der nicht wieder und wieder für sich oder im Gespräch mit anderen die Ungeheuerlichkeit zu erfassen und damit irgendwie zu bannen versucht hat. Terrorherrschaft, die ohne Verzug und Verkleidung begann, als dieses Land sich den Nationalsozialisten auslieferte. Man ist verführt, in einer Art rückwärtsgewandtem Wunschdenken zu rufen: ‚Wenn es doch nur dabei geblieben wäre‘. Gleichschaltung, ja, die war Unrecht, aber es haben einige doch „nur“ ihr Mandat verloren. Vor dem, was danach kam, Terrorherrschaft, der millionenfache Mord an den europäischen Juden, der ungeheure Krieg, vor alldem verblasst doch diese vergleichsweise harmlose Geschichte. Lässt nicht ein besonderes Gedenken an die Gleichschaltung den Sinn für Proportionen vermissen?

Man muss nicht lange nachdenken: Folgerichtig, unbeirrbar, mit voller Brutalität, ohne Zögern und Tasten, haben sich die Nazis vom ersten Tag an ihren Weg gebahnt. Das Ziel hieß Mord. Deshalb ist es Pflicht, an die ersten Schritte auf dem Weg zu diesem Ziel zu erinnern und deutlich zu machen, wie es anfing.

Martin Niemöller hat es prägnant zum Ausdruck gebracht, das Zitat ist bekannt, es erfasst nicht einmal die ganze furchtbare Wahrheit:

Als sie die ersten Kommunisten holten, habe ich geschwiegen; denn ich war kein Kommunist. Als sie die ersten Juden holten, habe ich geschwiegen; denn ich war kein Jude. Als sie die ersten Katholiken holten, habe ich geschwiegen; denn ich war kein Katholik. Als sie mich holten, war niemand mehr da, der seine Stimme hätte erheben können.

Wir erinnern uns also zu Recht an die ersten Gewaltakte, müssen uns aber auch fragen, was die Erinnerung bewirken soll. Selbstzweck ist sie nicht. Erinnerung an die längst verstorbenen Opfer der Barbarei bringt diesen weder Rettung noch Trost.

Damit es nie wieder geschehe, lautet die regelmäßig zu hörende, etwas hilflose Floskel, mit der wir glauben, auf der sicheren Seite zu sein. Wir demonstrieren vielleicht gegen Neonazis, womöglich und nicht unbedenklich mit dem durchgestrichene Firmenlogo der Mörderbande am Revers.

Es bedarf einer größeren Anstrengung: –

Zunächst dürfen wir dankbar sein, seit knapp 70 Jahren in Frieden zu leben, in einer gefestigten Demokratie, in einem funktionierenden Rechtsstaat. Wir haben unbedingt Grund, das alles zu schützen und zu verteidigen. Gleichschaltung auch nur annähernd von der gewaltsamen Art, wie sie vor 80 Jahren ins Werk gesetzt wurde, ist nicht zu befürchten.

Zur Besorgnis freilich gibt es dennoch mancherlei Anlass. Zu denken ist an die Gefahren, die von Anpassung und Selbstgleichschaltung ausgehen. Ruhe und Konsens sind bei uns beinahe Staatsraison. Kritisches Denken wird zunehmend als anstrengend und lästig empfunden. Die Politik, wie wir sie erfahren, bedient und bestärkt die Trägheit. ‚Alles wird gut‘, damit soll es getan sein. – Streit – nein danke. Schielen auf Wählerstimmen. Man vertraut der sogenannten Schwarmintelligenz von Netzwerken, statt sich des eigenen Verstandes zu bedienen. Alles in allem eine Tendenz nicht zum Guten. Wie groß ist unsere Bereitschaft, mit Ambivalenz und Widersprüchen zu leben? Einzuräumen, dass es die eine Wahrheit nicht gibt. Sich zum Zweifel zu bekennen.

Es sind die Werte der Aufklärung, die nicht in Gefahr geraten dürfen. Sapere aude, (Wage es, vernünftig zu sein!) –

Und: Die Bereitschaft, sich zu empören, darf nicht verloren gehen. Empörung, Aufbegehren ist das, was die Nationalsozialisten buchstäblich mit Mord und Totschlag unterdrückt haben.

Das Aufbegehren ist auch heute höchst unerwünscht. Empörung stört die Behaglichkeit, in der wir uns eingerichtet haben. Daraus erwächst die Gefahr der schleichenden Selbstgleichschaltung.

Hier muss das „Nie wieder“ ansetzen: Sich nicht zufrieden geben. Das, was gut ist schützen. Das, was nicht gut ist, benennen. – Und ändern. Protest erheben, sich unbeliebt machen. Mit dem Wachrütteln bei sich anfangen. Das ist anstrengend, aber das ist der beste Schutz vor einer neuen Barbarei.