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Die Liste unserer Ehrenbürger muss vor dem geistigen Auge eines Holocaust-Opfers bestehen können.

In der Gemeinderatssitzung vom 5. März 2018 ist die dem langjährigen Oberbürgermeister der Stadt Tübingen Hans Gmelin im Jahre 1975 verliehene Ehrenbürgerwürde aberkannt worden. Der Beschluss fiel einstimmig. 
Dr. Martin Sökler begründete das Votum der SPD-Fraktion:

Eine Vorbemerkung:
Die Frage, ob in Tübingen prinzipiell Ehrenbürgerwürden aberkannt werden sollen oder nicht, obwohl im juristischen Sinne mit dem Tod ohnehin erloschen, wurde im Jahr 2013 entschieden, als der Gemeinderat mit Mehrheit die Ehrenbürgerwürde von Adolf Scheef, Theodor Haering sowie Paul von  Hindenburg aberkannte. Wir halten diese Entscheidung nach wie vor für richtig, da einer Ehrenbürgerschaft neben ihrer juristischen auch eine symbolische, über den Tod hinaus reichende Bedeutung zukommt. Die Namen der Tübinger Ehrenbürger werden ja auch nicht nach ihrem Tod von der Ehrenbürgerliste gestrichen, sondern weiter auf dieser Liste geführt. Auch andere Kommunen haben Ehrenbürgerwürden nach dem Tod aberkannt. Einzelne Kommunen haben sogar Ehrenbürgerschaften erst posthum nach dem Tod der zu ehrenden Persönlichkeit verliehen wie zum Beispiel die Stadt Berlin im Jahr 2002 an die 10 Jahre zuvor verstorbene Marlene Dietrich. Dieser Tübinger Umgang mit den Ehrenbürgerschaften – sie insbesondere auf eine mögliche Belastung im Nationalsozialismus hin kritisch zu überprüfen -, bedeutet im übrigen auch, dass die Tübinger Stadtgesellschaft und der Gemeinderat sich auch mit der Vita von Theodor Eschenburg, Paul Schmitthenner und Kurt Georg Kiesinger noch werden auseinandersetzen müssen.

Zur Causa Gmelin:
Hans Gmelin hat sich um Tübingen unzweifelhaft verdient gemacht. Er stand dieser Stadt vor in Zeiten sehr schnellen Wachstums. Während seiner Amtszeit hat sich die Einwohnerschaft um mehr als 50 % erhöht, die Zahl der Studierenden sich mehr als verdreifacht. Das brachte auch damals Wohnungsnot mit sich. Hans Gmelin hat den Bau von WHO ermöglicht, indem er in Verhandlungen mit Bund und Land den Kauf des damaligen Exerzierplatzes der Franzosen zu für Tübingen vorteilhaften Bedingungen durchsetzen konnte. Er hat durch die Aushandlung der Generalverträge mit dem Land Baden-Württemberg die Einnahmesituation der baden-württembergischen Universitätsstädte, so auch von Tübingen, deutlich verbessert. Vor allem aber hat er sich um die Aussöhnung mit unseren westlichen Nachbarn verdient gemacht, so bei der Städtepartnerschaft mit Durham und insbesondere mit der Begründung der Städtepartnerschaft mit Aix en Provence. Diese sehr intensiv gelebte Städtepartnerschaft wurde 1965 mit dem Europapreis ausgezeichnet. Hans Gmelin wurde bereits 1966 zum Ehrenbürger von Aix en Provence ernannt.

Davon steht in der Forschungsarbeit von Niklas Krawinkel nichts. Dies ist ihm allerdings nicht zum Vorwurf zu machen, da seine Arbeitsauftrag lautete, insbesondere die NS-Belastung von Hans Gmelin und seinen Umgang damit nach dem Krieg zu untersuchen.
Im Blick auf diesen Umgang danach vermisst man vor allem eines: ein persönliches öffentliches Eingeständnis von Schuld, Reue und Scham.

Können die Verdienste Hans Gmelins um Tübingen nach dem zweiten Weltkrieg mit seiner Verstrickung in die NS-Verbrechen verrechnet werden? Klare Antwort: nein. Dafür ist die Schuld, die Gmelin auf sich geladen hat, zu groß. Unser Anspruch muss sein, dass die Liste unserer Ehrenbürger vor dem geistigen Auge eines Holocaust- Opfers bestehen kann. Der Name Hans Gmelin kann dies nicht.

Niklas Krawinkel zeigt minutiös und detailgenau die Beteiligung Gmelins an den Verbrechen der Nazis und dem Völkermord an den europäischen Juden auf. So beschreibt er die engen Verbindungen von Gmelin zur Hlinka-Garde und zur freiwilligen Schutzstaffel in der Slowakei im Jahr 1942. Sie waren damit beauftragt, Juden aufzuspüren und für die Deportation festzusetzen. Noch im Herbst 1944 hat Gmelin die Deportation slowakischer Juden gerechtfertigt, durch offensichtliche Schutzbehauptungen gedeckt und letztlich damit in einem in dieser Zeit schwieriger werdenden Umfeld in der Slowakei erst mit ermöglicht. Die letzten Deportationen, die in Auschwitz eintrafen, kamen aus der Slowakei. Hans Gmelin war Holocaust-Täter.

Zum Umgang mit der Causa Gmelin nach dem Krieg:
Wie Niklas Krawinkel ausführlich darlegt, war die NS-Vergangenheit Gmelins im Oberbürgermeister- Wahlkampf 1954 durchaus ein Thema. Sie wurde von Gmelin selbst zum Thema gemacht und hat – so Krawinkel – ihm mit zum Wahlsieg verholfen. Seine Forderung nach einem Schlussstrich unter die NS-Debatten war möglicherweise manchem Tübinger Wähler durchaus willkommen. Es ist anzunehmen,  dass mancher Tübinger durch seine Wahlentscheidung für Gmelin auch einen Schlussstrich unter das eigene Versagen und Wegschauen in der NS-Zeit ziehen wollte.

Bei der Verleihung der Ehrenbürgerwürde 1975 spielte das Thema – wie Peter Ertle es in der vergangenen Woche im Tagblatt beleuchtete – keine Rolle. Das erstaunt aus heutiger Sicht, war doch gerade  1974 das Buch „Die Tübinger Juden“ von Lilly Zapf erschienen. Es ist der ehemaligen Sekretärin im Tropeninstitut umso höher anzurechnen, dass sie sich in diesem Umfeld so intensiv der Erforschung der Biografien der Tübinger Juden gewidmet hat. Sie hat sich als einsame Ruferin und Pionierin sehr verdient gemacht.

Im Jahr 2005, als der Film von Malte Ludin über seinen Vater und der Artikel von Hans Joachim Lang am 28.4.2005 im schwäbischen Tagblatt erschien, kam das Thema Gmelin wieder in die öffentliche Diskussion. Seitdem ist die SPD immer wieder Angriffen ausgesetzt von links. Das geht nicht spurlos an einem vorüber, denn für viele Sozialdemokraten ist die Auseinandersetzung mit der NS-Zeit prägend und Triebkraft für das politische Engagement. Für mich selbst waren Reisen nach Auschwitz mit 18 Jahren und ein mehrwöchiger Israel-Aufenthalt mit 19 Jahren konstitutiv für die politische Bewusstseinsbildung. Frau Dr. Kliche-Behnke hat über die Erinnerungskultur promoviert. Klaus te Wildt organisiert jedes Jahr an Heiligabend einen Besuch des Gräberfeld X durch SPD-Ortsverein und -Fraktion. Ohne ihn würde es die Gedenktafel in diesem Saal für die von den Nazis aus dem Gemeinderat vertriebenen Stadträte in dieser Form nicht geben. Ich bekomme eine Gänsehaut, wenn ich an den 23. März 2013 denke, als auf dem Tübinger Holzmarkt der Rede von Otto Wels im Reichstag 80 Jahre zuvor gedacht wurde und die Worte erklangen, mit denen er sich dem Ermächtigungsgesetz Hitlers entgegenstellte: „Die Freiheit und das Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht“. Nein, die Vorwürfe an meine Partei gehen ins Leere. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands braucht keine Belehrungen,  weder von links noch von rechts, was den Umgang mit Faschismus und Diktatur angeht.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Gemeinderäte meiner Partei in den Nuller-Jahren das Thema Gmelin, auch aus Rücksichtnahme auf die Familie, damals lebte die Ehefrau Gmelins noch, zur Seite gelegt und sich zunächst anderen Themen der Erinnerungskultur zugewandt haben. Das war falsch. Es wäre richtig gewesen, einen Forschungsbericht, wir er jetzt vorliegt, schon damals zu beauftragen.

2012 wurde dann richtigerweise, auch einer Forderung der Geschichtswerkstatt entsprechend, das Promotionsstipendium vergeben. Seitdem ist im Übrigen der Name Gmelin auf der Liste der Tübinger Ehrenbürger auf der städtischen Homepage bereits mit einer erläuternden Fußnote versehen.  Mit dem Vorliegen des Forschungsberichts von Niklas Krawinkel können wir heute fundiert entscheiden und feststellen: Hans Gmelin war Holocaust-Täter. Die Ehrenbürgerwürde wird aberkannt.